Die Konzertkirche, na klar. Die Kunstsammlung - sowieso. Neubrandenburg hat aber noch viel mehr zu bieten. Die Kulturszene zeichnet sich durch Vielfalt aus. Diese Vielfalt möchten wir vorstellen: in unserer Serie über die Vier-Tore-Stadt. Heute, Teil 8: 

Heimatgeschichte unter die Leute bringen

Porträt von Annalise Wagner.

Annalise Wagner widmete ihr ganzes Leben der regionalhistorischen Forschung in Mecklenburg-Strelitz. Die von ihr gestiftete Auszeichnung ist zu einem echten Bürgerpreis geworden. 

„Es ist ein richtiger Bürgerpreis geworden!“ Wenn Heike Birkenkampf über den Annalise-Wagner-Preis spricht, gerät sie ins Schwärmen. Die Bibliothekarin ist Vorstandsmitglied in der Annalise-Wagner-Stiftung und hat mit ihren Kollegen gerade wieder die schwere Aufgabe bewältigt, aus 75 Vorschlägen einen Preisträger auszuwählen. „Die Jury steckt da jedes Jahr absolut in der Klemme“, gesteht Heike Birkenkampf – dafür sorgt neben der Quantität die Qualität der Vorschläge.

Vergeben wird der Annalise-Wagner-Preis für Texte über die historische Region Mecklenburg-Strelitz/Stargarder Land – oder an Autoren, die in dieser Gegend leben. Einen „Beitrag zum Gedächtnis der Region“ sollten die Schreiber in  ihren Texten leisten – so wünschte es sich die Stifterin des Literaturpreises, Annalise Wagner.

Als diese ihr Testament verfasste und ihren Wunsch verbriefte, war längst nicht klar, dass wirklich einmal unter ihrem Namen Heimatgeschichte gefördert werden könnte. Annalise Wagner starb 1986. In ihren letzten Jahren war die Frau, die ihr ganzes Leben der Regionalforschung gewidmet hatte, zunehmend ins Abseits gedrängt worden. War es ihre kritische Auseinandersetzung mit dem eingeengten Geschichtsbild der DDR oder die als subversiv betrachtete Forschung zu den Wurzeln einer Region, die längst von einem sozialistischen Bezirk ersetzt worden war – Annalise Wagners Engagement eckte an.

Heute gilt das von ihr zusammengetragene und bewahrte Material als großer Schatz. Nachdem 1950 die Mecklenburg-Strelitzsche Landesbibliothek aufgelöst worden war, sah Annalise Wagner das Gedächtnis der Region gefährdet. Außerdem fehlten jetzt innerhalb kurzer Zeit sowohl der Arbeitsplatz für den Bibliothekar Walter Karbe als auch ein Domizil für dessen umfangreiche heimatgeschichtliche Sammlungen. Hier half die Neustrelitzerin, die nach Karbes Tod das Material erbte und als Privatarchiv öffentlich nutzbar machte. Heute erinnert in der Stadt eine Karbe-Wagner-Straße an zwei engagierte Menschen, denen ein großer Wissensschatz zu verdanken ist.

Annalise Wagner sorgte stets dafür, dieses Wissen „unter die Leute zu bringen“. Sie gab heimatkundliche Schriften heraus, publizierte selbst und schenkte schließlich ihrer Heimatstadt Neustrelitz das Karbe-Wagner-Archiv sowie ihr Wohnhaus, in dem später ein kleines Museum eröffnet wurde. Aber ihr letzter Wille, mit einer Stiftung weiter zum historischen Gedächtnis Mecklenburg-Strelitz’ beizutragen, ließ sich in den 1980-er Jahren nicht verwirklichen. Mit der Wende nutzten die Regionalbibliothek und die Stadt Neubrandenburg als nachfolgende Erben des Nachlasses sofort die Gunst der Stunde und gründeten mit der Annalise-Wagner-Stiftung eine der ersten Kulturstiftungen Ostdeutschlands. Maßgeblich angeregt wurde der Schritt von der damaligen Bibliothekarin Gudrun Mohr, die sich dem Erbe Annalise Wagners immer verpflichtet fühlte.

So wird die Stiftung in diesem Jahr schon zum 27. Mal den Annalise-Wagner-Preis vergeben. Im Juni ist die offizielle Preisverleihung – am 19. des Monats jährt sich der Geburtstag der Stifterin zum 115. Mal. Und so gehört zu ihrem Vermächtnis auch ein Preis mit spannenden Nebenwirkungen, der durch Forschungen zur kleinen Geschichte große erzählt. An dieser Stelle staunt Heike Birkenkampf immer wieder darüber, wie aktuell das Thema Regionalgeschichte sein kann. „Annalise Wagner hat damals schon den Begriff Heimat in den Fokus gestellt – und die Grundlage dafür gelegt, dass wir heute überhaupt mit Grundlagen darüber diskutieren können“, sagt sie. Und auch sonst hat das Gremium schon viel Gutes angestiftet. Vorhaben wie ein ins dritte Jahr gehendes deutsch-polnisches Jugendprojekt sind zum Beispiel aus Preisträgerarbeiten entstanden. So wird das historische Gedächtnis weiter gefüllt. Oder um es mit den Worten Annalise Wagners zu sagen: „Nur der vermag sich die Zukunft zu bauen, der die geschichtliche Vergangenheit trotz kritischer Wertung achtet, der die Eigenart unseres Heimatlandes liebt ...“

Text: Katja Haescher