Im Vordergrund steht das Kunstwerk. Der Künstler hat abwechseln Spinde und Stahlblöcke übereinander gestapelt, in der Mitte fehlen die Blöcke. Dadurch entstehen Freiräume zum Durchgucken. Hinter dem Kunstwerk stehen Werftgebäude.
„Schichtwechsel!“ Robert Günthers Ausstellungsobjekt, eine Kombination aus alten Spinden und Stahlblöcken, steht draußen auf dem Werftgelände – und wird nach der Kunstschau auch hier stehen bleiben, kündigt Kuratorin Zahra Hasson-Taheri an.
04.08.2023

Werft trifft Kunst

Erinnern Sie sich an Momente, in denen Sie zwischen den Stühlen saßen? Das Leben zu Neuem aufbrach? In unbekanntes Terrain? Was Künstlerinnen und Künstler mit solchen Gefühlen verbinden, können Sie in Stralsund sehen. In der Werft und Kulturkirche. Hereinspaziert in die 33. Landesweite Kunstschau. 

„Unser täglich Brot“ braucht viel Fingerspitzengefühl. Karen Kunkel steht auf einer Leiter, legt Daumen und Mittelfinger hauchzart um die Angelschnur. Je nach Licht verschwinden die Sehnen vor dem Auge im Nichts. An ihren Enden hält sich Butterbrotpapier fest. Für einen Moment scheint es, als schwebt „Unser täglich Brot“ von allein im Raum. 

Das Papier stammt aus einer Zeit, als die Volkswerft noch ein VEB, ein Volkseigener Betrieb, war. Für die Ausstellung kramte Karen Kunkel in der Zeit und vielen persönlichen Erinnerungen. Fotos. Postkarten. Logbuchseiten. Kartenausschnitte. Reiserouten. Notizen. Zeichnungen. Gedanken. All das findet Platz auf dem alten Pergamentersatzpapier. Warum sie die Besucherinnen und Besucher so tief in ganz persönliche Momente blicken lässt? „Weil Stralsund ein sehr persönlicher Ort für mich ist.“ Karen Kunkel ist hier geboren, aufgewachsen. Bis heute eng mit ihm verbunden. „Jeder kennt jemanden, der hier, in der Werft, gearbeitet hat.“ Eines der alten Schwarz-Weiß-Fotos zeigt ihren Vater, im Garten, neben dem damaligen Chef der Werft. „Er war unser Gartennachbar.“ 

„Irgendwo dazwischen“ liegt die Kunst 

Die Sonne schimmert durch das dünne Papier, vermischt und verwischt beide Seiten miteinander. Setzt einen zarten Gegenpol zu Stahl und Stärke der Werft. Was der Betrachter darin sehen könnte? Dass hinter jedem Menschen auch ein fragiles Wesen stecke, mit Bedürfnissen und Empfindungen. Und dass sich unser täglich Brot nicht nur aus Nahrung speise, sondern auch aus Liebe und einem sozialen Umfeld. So sieht es zumindest die Künstlerin. 

Karen Kunkel lässt sich von dem Gewusel um sie herum nicht aus der Ruhe bringen. Hier, im zweiten Obergeschoss des Sanitärtraktes, wo einst Spind an Spind stand, die Werft-Mitarbeiter zwischen Privatleben und Arbeit hin- und herwechselten, füllt sich der Raum nun mit Kunst. „Betwixt and Between“ muss sie sein. Übersetzt also „Weder das eine noch das andere“ oder „zwischen beiden“. So ist es in diesem Jahr vorgegeben. 

Handy nicht vergessen!

Viele Künstlerinnen und Künstler verleihen ihren Gedanken dazu extra für die Kunstschau Ausdruck. Andere stellen bereits vorhandene Arbeiten aus. „Alle hatten vorher Gelegenheit, sich die Räume anzuschauen, sich von ihnen inspirieren zu lassen“, erzählt Zahra Hasson-Taheri. Die Kuratorin hat wenige Tage vor der Eröffnung Medien zu einem Vorabrundgang eingeladen. Wer mit ihr durch die Ausstellung geht, in Kirche und Werft bildliche Zwischenräume betritt, weiß danach um die Geschichte, die Künstler und Exponate miteinander verbindet. Doch was, wenn man sie nicht an ihrer Seite hat? „Dann helfen QR-Codes mit Infos weiter“, sagt sie. 

Die Kuratorin lenkt den Weg vorbei an Installationen und Skulpturen. Grafiken und Gemälden. Fotos und Klängen. Und manchmal auch mitten hindurch. Durch Räume, die ganz offensichtlich ihre Wege weisen. Und jene, die sich erst auf den zweiten Blick zeigen. Trauen Sie sich hindurchzugehen, Spindtüren zu öffnen, Wasser zum Fließen und ehemalige Werftmitarbeiter zum Reden zu bringen!

Zwei Orte, eine Ausstellung 

Sorge, dass ihr die Besucher/innen auf dem etwa zwei Kilometer langen Weg zwischen Kulturkirche und Werft „verloren“ gehen, hat Zahra Hasson-Taheri nicht: Verbindendes Element seien fünf Spinde, die einst in der Werft standen und jetzt kunstvoll gestaltet auf dem Weg dazwischen zu kleinen Pausen einladen. Wer nicht zu Fuß gehen oder mit dem Auto fahren möchte, könne auch ganz bequem die Linie 1 nehmen, sagt ein Vertreter der Stadt: Die Haltestellen, die beide Orte miteinander verbinden, heißen Wasserstraße und Rügendammbahnhof.

Kirche oder Werft – wo sollten Besucher/innen ihren Rundgang starten? Das überlässt die Kuratorin der persönlichen Vorliebe. „An der Werft kann man jedoch besser parken.“ 

Karen Kunkel steht auf einer Leiter. Von der Decke hängen ihr Collagen aus Butterbrotpapier. Eine davon bringt sie in die richtige Position.
Butterbrotpapier – darauf hat Karen Kunkel schon als Kind oft gezeichnet. Für „Unser täglich Brot“ hat sie beide Seiten des Papiers genutzt. „Weil alles im Leben zwei Seiten hat.“
An der Wand hängen drei Stühle. Sitzfläche, Lehne und Stuhlbeine wurden neu zusammengesetzt. Jetzt sind die Stühle ganz flach.
Wie oft haben Sie bildlich gesehen schon zwischen den Stühlen gesessen? Iris Vitzthum löst die Möbelstücke aus ihrer Funktion, ordnet die Einzelteile neu an und reduziert die Stühle damit auf ihre äußere Erscheinung. Und die Frage: Was bleibt am Ende?
Anne Sewcz kniet vor einer halbfertigen Skulptur aus weißen, rechteckigen und hochkant gestellten Blöcken und öffnet ein Paket, in dem sich weitere Teile der Skulptur befinden. Im Hintergrund lehnen unausgepackte Bilder an der Wand.
Die Werke an Ort und Stelle zu platzieren, ist Sache der Künstler/innen. Hier packt Anne Sewcz eine ihrer Skulpturen aus. Im Hintergrund stehen Bilder von ihr. Sie freut sich über ihren Platz in der Jakobi-Kirche. „Eine bessere Stelle hätte ich mir nicht wünschen können.“
Kuratorin Zahra Hasson-Taheri steht vor Kunstobjekten der Ausstellung.
Bei der Landesweiten Kunstschau dabei zu sein, ist begehrt. „Mehr als 100 Bewerbungen haben uns erreicht“, sagt Kuratorin Zahra Hasson-Taheri. 53 Künstlerinnen und Künstler haben es in die Ausstellung geschafft.
Drei Skulpturen aus Holz. Eine erinnert der Form nach an eine Erdnusshülle, eine an eine Avocado und die dritte an einen großen Tropfen. Aus allen ragt oben ein schmaler, geschwungener Stil heraus. Im Hintergrund hängt ein buntes Bild.
Eckard Labs' „Fundstücke“ aus Holz nähern sich dem Thema der Ausstellung aus Sicht des Werkstoffs: Was passiert, wenn sich Formen ausdehnen? Das Ergebnis steht in der Jakobi-Kirche, gleich gegenüber der Stühle.
Im Kirchenschiff steht ein Boot. Gebaut aus Asten. Eine Plane spannt sich wie ein Zeltdach darüber. Im Inneren liegen Felle und Decken. Daneben hängt ein überdimensionales Segel.
Maik Buttler ist Architekt und Maler. Das spiegelt sich auch in seiner Installation wider. Das Boot – ein Symbol des Lebens, von dem man nie weiß, wohin es einen treibt? Das Segel – ein Zeichen der Hoffnung, den richtigen Weg zu finden? Vielleicht sehen Sie auch etwas ganz anderes darin? Schauen Sie doch mal!
An einer Kirchenwand hängen nebeneinander sieben Bilderrahmen. Manche enthalten Bilder, andere geschriebene Worte.
Die Arbeit von Reinhard Gagel entstand während der Corona-Zeit und als der Künstler am rechten Arm verletzt war. Beides ein Symbol für Übergangsphasen seines Lebens, aus denen diese Serie mit insgesamt neun Bildern hervorgegangen sei, erzählt die Kuratorin.
Aus einem schwarzen Kasten mit Löchern wachsen Pflanzen.
Aus der Dunkelheit ans Licht: Die Blume hat in der Jakobi-Kirche ihren Weg aus der „Blackbox“ von Anett Simon gefunden.
Auf einem Spiegel liegt ein Gebilde aus Knochen. Dahinter hängen Fotografien aus der Natur.
Neben dem Leben in der „Blackbox“ steht die Vergänglichkeit: Eine „Knochenarbeit aus dem wilden Garten“ von Petra Lehnardt-Olm.
An der Wand hängen Papierblätter. Jedes enthält einen Großbuchstaben. Vor der Wand steht ein brauner Tisch. Darauf befinden sich eine Kaffeetasse, eine Medikamentenbox und viele Zettel mit der gedruckten Aufschrift „Nicht vergessen“ und handschriftlichen Notizen.
Welcher Tag ist heute? Diese Frage wirft Sieglinde Mix an einer Wand in der Jakobi-Kirche auf. Der Künstlerin gehe es um Erinnerungen, die flüchtig werden, nur auf Zetteln noch Halt finden und den Raum zwischen Vergangenheit und Gegenwart neu ziehen, erläutert die Kuratorin beim Rundgang.
An der Außenfassade vom Kircheneingang hängt ein großes Plakat, das auf die Landesweite Kunstschau hinweist.
Betwixt and Between: Das Thema der Kunstschau spiegelt sich auch in seinen Orten wider: In einer Kirche, die keine klassische Kirche mehr ist. Und einer Werft mitten im Übergang zu etwas Neuem, Unbekanntem.
In den Scheiben der Glasfassade steht in orangener Farbe „Now was new“. Die drei Wörter stehen untereinander. Jedes Fensterelement enthält einen Buchstaben, der ungefähr so groß ist wie ein Erwachsener. Am Gebäude daneben prankt der Schriftzug „MV Werften Stralsund“. Im Vordergrund des Gebäudeensembles steht die Künstlerin.
„Now was new.“ Diese drei Worte begrüßen die Besucher/innen am Eingang auf dem Werftgelände. Auf die Scheiben gebracht hat sie Susanne Gabler. Ihr geht es um den Moment. Um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und um die Frage: „Wie lang ist das Jetzt?“ Für Englisch hat sie sich entschieden, weil die Werft ein internationaler Ort sei und Zukunft auch bedeute, global zu denken.
Zwei blaue Spinde liegen quer übereinander.
Die blauen Spinde aus der Werft begegnen den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung immer wieder. „Die ganze Etage stand voll mit ihnen“, erzählt Zahra Hasson-Taheri. Der Kuratorin war es wichtig, einige davon zu behalten und die Künstler/innen „in Dialog mit ihnen treten zu lassen“.
Ein geöffneter Spind. An der Decke brennt eine Lampe. Auf einem schmalen Brett stehen eine Tasse und eine Deko-Schale. An der Rückwand hängt ein Regal. Darauf stehen Gefäße und Stifte. Die Künstlerin blickt in den Spind.
Anne Rosinski ist eine der Künstlerinnen, die in diesen Dialog getreten ist. Hinter dieser Tür sitzt ihr „Atelier im Spind“. Eine Arbeit, mit der sie (sich) fragt: Wie viel Raum braucht Kunst? In der Tür daneben stellt sie „7 Fragen an die Vergangenheit“. An die Zeit, in der ihr Großvater auf der Werft Schweißer war.
In einem Waschraum verteilen sich vom Boden bis zur Decke unzählige grüne, bambusartige Triebe. Dazwischen hängt eine Wagenrad große helle Blüte. Die Künstlerin steht mitten in ihrer Installation.
Einer der Waschräume in der Werft gibt Petra Steeger Raum für ihre Installation. Drei Tage lang hat sie hier japanischen Knöterich in Stellung gebracht. Eine invasive Pflanze, die sie in der Umgebung von Warnemünde gesammelt hat. Die grünen Triebe sind echt, die Blüten aus Plastik. Ihr Gedanke dahinter: Irgendwann wird die Natur so mit Plastik verseucht sein, dass die eine nicht mehr ohne das andere kann. Eine Entwicklung, die sich dann ähnlich wie der Knöterich nicht mehr vertreiben lasse.
An der Wand reiht sich Waschbecken an Waschbecken. An den Wasserrohren sitzen in regelmäßigen Abständen Wasserhähne. An einem von ihnen wäscht Lisa Marie Steude ihre Hände und schaut in den Spiegel.
Im Waschraum der Werft fließt noch Wasser. Nehmen Sie sich einen Klecks Orangenseife, drücken Sie auf einen der Hähne. Und seien Sie gespannt, welche Töne und Lichter Ihr Waschgang hervorbringt! Die Idee zu dieser Klang-Collage hatten Lisa Marie Steude (Foto), Sarah Kunze und Danco Lewin. Zusammen sind sie das „Kollektiv LSD“. Titel ihrer Arbeit: „Feierabend“.
Im Ausstellungsraum der Werft verteilen sich Kunstobjekte.
Einst standen in diesem Raum die Spinde der Werftmitarbeiter. Nach der Insolvenz der MV Werften Stralsund kaufte die Stadt das Gelände. Einige Bereiche sind inzwischen verpachtet. Das Gebäude, in dem nun die Landesweite Kunstschau Platz findet, stand bislang leer. „Wir freuen uns sehr, dass wir die ersten sind, die es nutzen dürfen“, sagt Kuratorin Zahra Hasson-Taheri.
An den Wänden ziehen sich silberne Duschen entlang. Zwischen Brause und Druckknopf sind Gesichter abgebildet. Auf der Seifenablage stehen Boote. Sie verraten, wann die abgebildeten Personen in der Werft gearbeitet haben.
Die Duschen in der Werft – Iris vom Stein stellt sie sich wie einen Übergang vor. Einen Zustand zwischen dreckig und sauber, Arbeit und Privatleben. In der Ausstellung gibt sie hier ehemaligen Werft-Mitarbeitern ein Gesicht. Und eine Stimme: Wer mit seinem Smartphone die QR-Codes unter den Köpfen scannt, erfährt in kurzen Interviews mehr über die abgebildeten Personen und ihre Arbeit auf der Werft.