Werft trifft Kunst
Erinnern Sie sich an Momente, in denen Sie zwischen den Stühlen saßen? Das Leben zu Neuem aufbrach? In unbekanntes Terrain? Was Künstlerinnen und Künstler mit solchen Gefühlen verbinden, können Sie in Stralsund sehen. In der Werft und Kulturkirche. Hereinspaziert in die 33. Landesweite Kunstschau.
„Unser täglich Brot“ braucht viel Fingerspitzengefühl. Karen Kunkel steht auf einer Leiter, legt Daumen und Mittelfinger hauchzart um die Angelschnur. Je nach Licht verschwinden die Sehnen vor dem Auge im Nichts. An ihren Enden hält sich Butterbrotpapier fest. Für einen Moment scheint es, als schwebt „Unser täglich Brot“ von allein im Raum.
Das Papier stammt aus einer Zeit, als die Volkswerft noch ein VEB, ein Volkseigener Betrieb, war. Für die Ausstellung kramte Karen Kunkel in der Zeit und vielen persönlichen Erinnerungen. Fotos. Postkarten. Logbuchseiten. Kartenausschnitte. Reiserouten. Notizen. Zeichnungen. Gedanken. All das findet Platz auf dem alten Pergamentersatzpapier. Warum sie die Besucherinnen und Besucher so tief in ganz persönliche Momente blicken lässt? „Weil Stralsund ein sehr persönlicher Ort für mich ist.“ Karen Kunkel ist hier geboren, aufgewachsen. Bis heute eng mit ihm verbunden. „Jeder kennt jemanden, der hier, in der Werft, gearbeitet hat.“ Eines der alten Schwarz-Weiß-Fotos zeigt ihren Vater, im Garten, neben dem damaligen Chef der Werft. „Er war unser Gartennachbar.“
„Irgendwo dazwischen“ liegt die Kunst
Die Sonne schimmert durch das dünne Papier, vermischt und verwischt beide Seiten miteinander. Setzt einen zarten Gegenpol zu Stahl und Stärke der Werft. Was der Betrachter darin sehen könnte? Dass hinter jedem Menschen auch ein fragiles Wesen stecke, mit Bedürfnissen und Empfindungen. Und dass sich unser täglich Brot nicht nur aus Nahrung speise, sondern auch aus Liebe und einem sozialen Umfeld. So sieht es zumindest die Künstlerin.
Karen Kunkel lässt sich von dem Gewusel um sie herum nicht aus der Ruhe bringen. Hier, im zweiten Obergeschoss des Sanitärtraktes, wo einst Spind an Spind stand, die Werft-Mitarbeiter zwischen Privatleben und Arbeit hin- und herwechselten, füllt sich der Raum nun mit Kunst. „Betwixt and Between“ muss sie sein. Übersetzt also „Weder das eine noch das andere“ oder „zwischen beiden“. So ist es in diesem Jahr vorgegeben.
Handy nicht vergessen!
Viele Künstlerinnen und Künstler verleihen ihren Gedanken dazu extra für die Kunstschau Ausdruck. Andere stellen bereits vorhandene Arbeiten aus. „Alle hatten vorher Gelegenheit, sich die Räume anzuschauen, sich von ihnen inspirieren zu lassen“, erzählt Zahra Hasson-Taheri. Die Kuratorin hat wenige Tage vor der Eröffnung Medien zu einem Vorabrundgang eingeladen. Wer mit ihr durch die Ausstellung geht, in Kirche und Werft bildliche Zwischenräume betritt, weiß danach um die Geschichte, die Künstler und Exponate miteinander verbindet. Doch was, wenn man sie nicht an ihrer Seite hat? „Dann helfen QR-Codes mit Infos weiter“, sagt sie.
Die Kuratorin lenkt den Weg vorbei an Installationen und Skulpturen. Grafiken und Gemälden. Fotos und Klängen. Und manchmal auch mitten hindurch. Durch Räume, die ganz offensichtlich ihre Wege weisen. Und jene, die sich erst auf den zweiten Blick zeigen. Trauen Sie sich hindurchzugehen, Spindtüren zu öffnen, Wasser zum Fließen und ehemalige Werftmitarbeiter zum Reden zu bringen!
Zwei Orte, eine Ausstellung
Sorge, dass ihr die Besucher/innen auf dem etwa zwei Kilometer langen Weg zwischen Kulturkirche und Werft „verloren“ gehen, hat Zahra Hasson-Taheri nicht: Verbindendes Element seien fünf Spinde, die einst in der Werft standen und jetzt kunstvoll gestaltet auf dem Weg dazwischen zu kleinen Pausen einladen. Wer nicht zu Fuß gehen oder mit dem Auto fahren möchte, könne auch ganz bequem die Linie 1 nehmen, sagt ein Vertreter der Stadt: Die Haltestellen, die beide Orte miteinander verbinden, heißen Wasserstraße und Rügendammbahnhof.
Kirche oder Werft – wo sollten Besucher/innen ihren Rundgang starten? Das überlässt die Kuratorin der persönlichen Vorliebe. „An der Werft kann man jedoch besser parken.“